Degressive Bremsung
Es gibt eine fahrtechnische Wunderwaffe. Für Fahrschüler und routinierte Fahrer. Das gilt bis zum Rennfahrer. Die Wunderwaffe heißt "degressive Bremsung".
Eine degressive Bremsung ist eine Art der Bremsdosierung. Einfach gesagt, wird am Beginn der Bremsung stärker und gegen Ende der Bremsung hin, schwächer gebremst.
Im Vergleich zur gleichmäßigen und besonders im Vergleich zur progressiven Dosierung entstehen dadurch eine Reihe von Vorteilen. Auf die sechs wichtigsten Vorteile gehe ich in diesem Beitrag ein. Aber weitere Vorteile sehe ich in unseren Fahrstunden aber auch bei Fahrtechniktrainings immer wieder.
Die Liste ließe sich also fortsetzen.
Degressive Bremsung im Geschwindigkeitsdiagramm
In diesem Bild fährt ein Auto auf einen Schutzweg zu. Sollte ein Fußgänger den Schutzweg benützen wollen, muss der PKW anhalten.
Die schlechteste Variante ist die "rote" Bremsung, die progressive Bremsung:
Zuerst wird nur vom Gas gegangen, das Auto wird nur geringfügig langsamer. Oft wird bei dieser Variante der Fuß über das Bremspedal gesetzt, aber noch nicht gebremst; also "bremsbereit" gefahren. Knapp vor dem Schutzweg müsste dann verhältnismäßig stark abgebremst werden.
Abgesehen davon, dass das für den Fußgänger ein unangenehm, bedrohlicher Eindruck wäre und ein Zögern des Fußgängers auslösen könnte, zeigt sich oft auch eine hohe Fehleranfälligkeit (wie im nächsten Video zu sehen ist).
Das Video ist bei einer Prüfungsfahrt entstanden. Der Fahrschüler erkennt, dass die Verkehrssituation anspruchsvoller wird. Deshalb beginnt er zu bremsen, ist dann aber der Meinung, dass er langsam genug ist und bleibt nur noch "bremsbereit".
Als sich dann sehr kurzfristig (überraschend) Fußgänger annähern, ist der Fahrschüler sozusagen schreckstarr. Ein Anhalten wäre noch möglich, wenn auch mit einer sehr abrupten Bremsung. Er macht es aber nicht mehr.
Was wäre die Alternative gewesen?
Statt zu sagen:
"Ich schaue, ob ein Fußgänger kommt und dann bremse ich", wäre besser gewesen:
"Ich bremse so ab, dass ich vor dem Schutzweg zum Stillstand komme. Wenn ich mir sicher bin, dass kein Fußgänger da ist, gehe ich von der Bremse weg und fahre weiter"
Diese, und viele andere vergleichbare Situationen zeigen, wie wichtig die degressive Bremsung ist.
Die sechs wichtigsten Vorteile der degressiven Bremsung
1. Eigene Absicht wird erkennbar
2. Sichtpunkt bei Kreuzungen wird besser gefunden
Beim Annähern an eine Kreuzung als Wartepflichtiger, muss ich dort stehenbleiben wo ich noch keine Vorrangverletzung begehe, andererseits eine möglichst gute Einsicht habe. Diesen Punkt kann ich aus größerer Entfernung oft noch nicht genau bestimmen. Deshalb beginne ich mit der stärkeren Anfangsbremsung und mit der schwächer werdenden Schlussbremsung, kann ich den idealen Punkt genauer finden.
Oft werde ich in der Schlussphase auch bereits erkennen, dass kein Vorrangberechtigter kommt. Dann kann ich die Bremsung bereits komplett beenden und weiterfahren, ohne zum Stillstand gekommen zu sein.
3. Geschwindigkeitsanpassung vor Kurven wird genauer
Die richtige Einfahrtsgeschwindigkeit ist für das sichere Befahren der Kurve entscheidend.
4. Zurückschalten gelingt leichter
Zurückschalten ist ein Element der Fahrzeugbedienung, das unroutinierten Fahrern Schwierigkeiten bereitet.
Für Motorradfahrer ist das Zurückschalten besonders anspruchsvoll. Das ist Thema eines anderen Beitrags.
Mit dem PKW geht es vor Kreuzungen, Schutzwegen und Radfahrerüberfahrten oft um das Zurückschalten in den 1. Gang. Während das Zurückschalten 4. -> 3. oder 3. -> 2. problemlos ist, ist das Schaltmanöver in den 1. Gang schwieriger.
Etwas zu früh in den 1. Gang schalten bedeutet eine unangenehme Motorbremswirkung.
Etwas zu spät zurückschalten bedeutet untertourig zu sein. Vor allem aber bin ich knapp vor der Kreuzung abgelenkt und kann mich nicht ausreichend auf die anderen Verkehrsteilnehmer konzentrieren und die richtigen Entscheidungen treffen.
Der richtige Schaltzeitpunkt ist also extrem wichtig und gelingt mit der degressiven Bremsung besser.
5. Auffahrgefahr wird verringert
Thema Kolonnenfahren, typischerweise auf der Wiener Südost-Tangente:
Bei den extrem dichten Kolonnen kommt es oft zum tückischen Ziehharmonikaeffekt. Das erste Auto bremst noch leicht, das zweite schon etwas fester, das dritte noch fester, das vierte muss eine Vollbremsung einlegen. Das nächste Auto schafft es nicht mehr und es kommt zum Auffahrunfall.
Die Auffahrunfälle auf der SO-Tangente passieren oft so, dass zuerst zu schwach gebremst wird, weil die Situation noch als unproblematisch eingeschätzt wird. In der Schlussphase erkennt man, dass es knapp wird und verstärkt die Bremsung. Der Hintermann schafft es dann nicht mehr und fährt mir auf.
Wenn ich gleich stärker zu bremsen beginne, wird mein Hintermann sofort auf die Dringlichkeit der Bremsung aufmerksam und bremst ebenfalls stärker. Ich kann dann im Spiegel beobachten, ob die Situation ungefährlich bleibt oder ob er mir zu nahe kommt. In diesem Fall kann ich degressiv meine Bremsung nachlassen und dem Hintermann mehr Platz geben.
Den Ziehharmonika-Effekt sieht man in diesem Video auf YouTube.
6. Stillstand passiert ruckfrei
Kennen Sie das? Sie fahren in der U-Bahn und müssen sich bei jedem Einfahren in die Station festhalten. Ein anderes Mal können Sie ohne sich festzuhalten frei im Wagon stehen und ins Handy schauen; dieser Fahrer bremst degressiv!
Das gleiche passiert auch im Auto. Bei manchen Fahrern fährt man gern mit, weil die Fahrweise ruckfrei ist. Der Fahrer bremst degressiv. Knapp vor Stillstand bremst dieser Fahrer etwas schwächer.
Genauso funktioniert es im PKW. Auch unsere Mitfahrer fühlen sich besser, wenn wir mit einer degressiven Bremsung zum Stillstand kommen.
zuletzt aktualisiert:
29. November 2024 - Gerhard Nigischer